KLASSISMUS KRANK UND BEHINDERT

Was tun?: Sach- und Rechtslage, Mehrbedarfe bei Krankheit und Existenzminimum

FORDERUNGEN ZUR VERBESSERUNG DER SOZIALEN UND WIRTSCHAFTLICHEN SITUATION

1. Sehhilfen: die Krankenkassen übernehmen (wieder) sämtliche Kosten, auch für Brillengestelle, die begründet teurer sind, etwa weil sie z. B. wegen einer Bindegewebserkrankungen nur bestimmte leichte Gestelle in Frage kommen.
2. Im Existenzsicherungsrecht werden (wieder) Pauschalen bei Krankheit und Behinderung, Erwerbsminderungs- und Altersrenten eingeführt. Dies gilt auch für Regelbedarfe Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und auch bei Kindergrundsicherung. Das Geltendmachen von weiteren höheren Mehrbedarfen ist unbenommen. Zu beachten ist, dass Grade der Behinderung (GdB) nicht umfassend sind, z.B. sind kostenaufwändige Ernährung, Sehhilfen nicht enthalten.
3. Mehrbedarfe sind auch bei Einkommen unter Steuerfreibetragsgrenzen unter Berücksichtigung der Freibeträge des Behindertenpauschgesetzes als Pauschalen zu zahlen, denn auch Personen mit niedrigen Einkommen haben dieses Problem.
4. Es wird ein Gremium installiert, dem Diskriminierungen von Kranken und Behinderten durch Gesetzeslücken, Behörden u.A. gemeldet werden können und das die Verpflichtung hat, die Legislative mit Fristsetzung zur Behebung aufzufordern. Der Behindertenbeauftragte und die Diskriminierungsbeauftragte  sind dies offensichtlich nicht, denn der Hinweis zur Problematik wurde nicht zur Kenntnis genommen- es kann nicht sein, dass Diskriminierung jahrzehntelang individuell bis zum Bundessozialgericht (BSG) und Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beklagt werden muss. Das Gremium wird von Betroffenen besetzt, es muss endlich aufhören, dass andere über die Belange Behinderter entscheiden.

HINTERGRUND

Die Diskriminierung von systemisch erkrankten, multimorbiden und behinderten Menschen nimmt seit der Wende zu. Es findet trotz verfassungsrechtlichem Diskriminierungsverbot eine schwere Grundrechteverletzung statt. Bundesregierungen und Bundesparlamente, die gesetzgebenden Organe und auch im Gesetzgebungsprozess involvierte Organisationen, sowie Richterschaft und Behörden diskriminieren diese Menschen an unterschiedlichen Stellen im Existenzsicherungsrecht (welches ohnehin unzureichend ist). Man muss dabei bedenken, dass diese Menschen erkrankungsbedingt oft dauerhaft dem Existenzsicherungsrecht anheim fallen. Die Politik gibt ja selbst zu, dass man vom Regelsatz nicht dauerhaft leben kann (Heinrich Alt, „Regelsatz ist keine Dauerlösung“, in: https://www.n-tv.de/politik/Hartz-IV-Erhoehung-erst-im-Maerz-article2241496.html, 2010). 2018 rügte der UN-Sozialausschuss die BRD und forderte u.A. eine höhere Grundsicherung, die Hartz IV Sätze seien zu niedrig. D.h. diese sind für systemisch Erkrankte, Multimorbide etc. erst Recht nicht hinreichend (UN-Sozialausschuss fordert höhere Grundsicherung in Deutschland 03.11.2018, Sonntagsblatt, https://www.sonntagsblatt.de/artikel/menschen/un-sozialausschuss-fordert-hoehere-grundsicherung-deutschland). Die schlechte Versorgung und wirtschaftliche Vulnerabilität dieser Personengruppen beschreibt auch der Deutsche Ethikrat (https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Pressemitteilungen/pressemitteilung-06-2018.pdf).

Wie mit dieser vulnerablen Personengruppe umgegangen ist, ist ein Seismograph für den Zustand der Menschenrechte in der Bundesrepublik. Unverständlich, als in der deutschen Geschichte im Faschismus schon schweres Unrecht und Mord an dieser Personengruppe zum Zweck der Kostenreduktion begangen wurde. Schade, dass bei den Verantwortlichen wohl kein Gespür vorhanden ist, solche Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden.

Appell: wahrscheinlich haben Sie keine schwere Erkrankung oder Behinderung und werden auch niemals auf Existenzsicherung angewiesen sein. Bedenken Sie bitte dass solche Notlangen jeden betreffen können. Lesen Sie diese Information und hinterlassen Sie Ihre email für eine Petition, damit dieser unwürdige Zustand alsbald abgeschafft werden kann. Möchte Sie weiter informiert werden, etwaige Petition unterstützen, bitte eine email an umfairteilung@gmx.de mit Betreff: Diskriminierung Kranker und Behinderter stoppen.

1. Kampfzone medizinisch begründete Mehrbedarfe
Diese Personen haben idR höhere Lebenshaltungskosten z. B. wegen eingeschränkter Mobilität. Daher gab es im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bis 1997 pauschale Mehrbedarfe bei Behinderung, Erwerbsminderungs- und Altersrente. Diese wurde 1997 gestrichen u. a. mit der Begründung, dass die Krankenkassen alle nötigen Behandlungen übernehmen und durch das Pflegegeld die Pflege sichergestellt ist.

Jedoch wurde mit der Gesundheitsreform 2003 eine Vielzahl von bisher übernommenen Krankenkassenleistungen ausgegliedert, z. B. Medikamente Erkältungen, Allergien, Sehhilfen. Seitdem werden weitere Leistungen gestrichen, z.B. Abklärung des Mastzellaktivierungssyndrom. Besonders betroffen sind Personen, die mehrfach, systemisch, multisystemisch oder auch an seltenen Erkrankungen mit verschiedenen Komorbiditäten erkrankt sind- sie haben müssen eine Menge privat zahlen oder darauf verzichten- dann gibt es auch keine Behandlung.

2005 wurde das BSHG durch das SGB II und SGB XII, also Hartz IV und Grundsicherung ersetzt. Die Regelbedarfe, u.A.  für Gesundheit wurden niedrig pauschaliert. Erklärtes Ziel war, die Existenzsicherung so niedrig wie möglich ausfallen zu lassen. So kann man nicht nur diese Ausgaben drücken, sondern auch Einkommen aus Arbeit und Renten hieraus niedrig halten. 2021 beträgt der Regelbedarf für Gesundheit 16,42 € mtl.. Davon sind auch die Zuzahlungen für Rezepte bis zur Belastungsgrenze in Höhe von 2 % jährlich (bei chronisch Erkrankten 1 %) bei einem Regelsatz von aktuell 432 € mtl. zu leisten. Es verbleiben so nur 145,20 bis 93,36 € jährlich für freiverkäufliche Medikamente, Sehhilfen, wirtschaftliche Aufschläge (diese sind für bessere Hilfsmittel zu bezahlen, welche gerade für chronische Probleme benötigt werden) und von der Krankenkasse nicht übernommene Diagnoseverfahren, Therapien (wir sprechen hier nicht von Igel-Leistungen, sondern von Leistungen die fachärztliche Verbände empfehlen, z. B. bei Glaukom die regelmässige Untersuchung des Sehnerven. Mittlerweile wird die für den grauen Star übernommen, der bei alten Personen auftritt, aber nicht für das gefährlicher Glaukom, das schon in jungen Jahren auftreten kann- offensichtlich handelt es sich hier um eine politische Entscheidung zum Wählerklientel Rentner*innen).

Die Regelsatzberechnung fragt nicht nach, was chronisch Erkrankte benötigen, sondern setzt als relevant an, das sich arme Menschen noch ausgeben können. Auch sind die Erhebungen noch mal runtergerechnet, Ausgaben für Weihnachten, Geburtstage, Feste, Pflanzen- und Tierbedarf, Regenschirm, Fotoapparat, Personal Computer o. Ä. und vieles mehr wurden gestrichen. De facto besteht keine Möglichkeit etwa durch Sparen benötigte Ausgaben zu decken oder quer zu finanzieren. Es wird nicht die reale Preisentwicklung abgebildet, sondern ein Mischpreisindex, so wird die Berücksichtigung realer Kosten dauerhaft verschleppt (Michael Fabricius, Das Lebensmittel-Dilemma der Hartz IV Empfänger, 30.08.2016, https://www.welt.de/wirtschaft/article157908900/Das-Lebensmittel-Dilemma-der-Hartz-IV-Empfaenger.html) .

Bei nur wenigen gängigen Erkrankungen ist ein Mehrbedarf in der Ernährung vorgesehen. Jedoch ist gerade bei systemischen Erkrankungen dauerhaft eine bestimmte kostenaufwändige Krankendiät angezeigt. Aktuell ist festzustellen, dass der Regelsatz für Ernährung, also bei normaler Ausgangssituation ohne Krankheiten, nicht sicherstellt, dass Hunger, Unter- und Fehlernährung vermieden werden kann (Arm, abgehängt, ausgegrenzt- eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV, Der Paritätische, 2020) und nicht ausreichend für eine gesunde Ernährung ist (Politik für eine nachhaltigere Ernährung- eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten, Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ermährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 2020).

2. Verbesserungen müssen in zähen jahrzehntelang dauernden Einzelkämpfen bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG)  erreicht werden.
Bis 2010 entschieden die Gerichte oft, dass multimorbide Hilfeempfänger (im folgenden Beispiel, Urteil des LSG Baden Württemberg vom 22.11.2007- L 7 SO 4180/06,  hatte eine an Epilepsie erkrankte Frau geklagt, die auch während des Verfahrens am LSG verstarb) keine ergänzenden Ansprüche haben. Geradezu zynisch wird erklärt, dass die Regelsbedarfsermittlung verfassungskonform ist, da diese Personen typischerweise keinen besonders erhöhten Bedarf bei der medizinischen Versorgung hätten, was falsch ist- das Gericht hatte auch auf keine Ergebnisse einer Prüfung verweisen können. Von einer Grundrechtsverletzung sei nicht die Rede, weil Gleichbehandlung erreicht sei, wenn allen Menschen die gleiche Krankenbehandlung zugänglich sei. Das Urteil verkennt hier die ständige Rechtsprechung, denn der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse nicht berücksichtigt wurden, die in dem jeweiligen Zusammenhang (z. B. BVerfG 53, 313, 329) so erheblich (BVerfG 21, 12, 26; 53, 313, 329) oder bedeutsam sind, das sie  bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise betrachtet werden müssen (z. B. BVerfG 76, 256, 331, 337) (aus: Peter, Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 34). Außerdem müssten sich Arme ja naturgemäß einschränken, dies gelte auch für die Krankenversorgung. Dies ist auch falsch, denn der Gestaltungsraum des Gesetzgebers ist nämlich dann zu Ende, wenn die Grundrechte des einzelnen Individuums verletzt sind.

Deshalb entschied das BVerfG (Entscheidung vom 09.02.2010 Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09), dass der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (Rn 137). Die Gesamtheit der Regelungen im SGB II umfasst nicht ausnahmslos alle besonderen Bedarfe. Diese sind auch nur in durchschnittlicher Höhe abgebildet, bei überdurchschnittlichen Bedarfen erweist dich die Regelleistung als unzureichend. Zur Deckung solcher dauerhafter Bedarfs ist ein Darlehen ungeeignet, auch die in § 20 ff. SGB II einmaligen Leistungen sichern einen solchen Bedarf nicht. Daher ist bis 31.12.2010 eine Härtefallregelung zu schaffen, wie sie mit § 73 im SGB XII existiert.

Allerdings war die Umsetzung dieser Massgabe von CDU und FDP gewollt schlecht, Betroffene sollen ja von ihren Ansprüchen weiterhin fern gehalten werden. Daher müssen sich Bedürftige weiterhin einzeln jahrzehntelang durch Instanzen klagen, wiewohl der Bedarf jetzt schon anfällt- das menschenwürdige Existenzminimum ist hier nicht mehr vorhanden. Es wäre möglich gewesen, neben der Öffnungsklausel Mehrbedarfe zu benennen oder einen offenen Katalog anzufügen, was eine Handlungsanleitung für Jobcenter und Gerichte gewesen wäre. Mehrbedarfe sind gerade für sog. untypische Bedarfe, wie sie bei seltenen, systemischen Krankheiten und Multimorbiden entstehen, vorgesehen.

Erst Einkommen über dem Steuerfreibetrag werden nach dem Behindertenpauschgesetz nach Grad der Behinderung Mehrbedarfe in Form eines höheren Steuerfreibetrags zugestanden. Damit sind auch Bezieher*innen niedriger Einkommen von nötigen Mehrbedarfen ausgeschlossen.

3. Kampf um Sehhilfen
Die BRD ist das einzige Land in den EU-Kernländern, wo arme Personen keine Sehhilfen finanzieren können.

2014 hatte das BverfG u.a. zu entscheiden, ob Sehhilfen im Regelsatz berücksichtigt sind. Es kam zu dem Schluss, dass Strom und Mobilität grenzwertig sind, weisse Ware und Sehhilfen unterdeckt (Entscheidung vom 23.7.2014, 1 BvL 10/10, 1 BvL 12/12, l BvR 1691/13, Rn. 120). Mithin 9 Jahre hatten Betroffene diese Grundrechtsverletzung hinzunehmen. Das BVerfG gab der Politik leider ohne Fristsetzung auf, hier einen Zuschuss zu schaffen (Rn. 116). Noch 2016 behauptete die Bundesregierung im Regelbedarfsermittlungsgesetz, „Für Sehhilfen wird angesichts der vollständigen Berücksichtigung der Verbrauchsausgaben für therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Eigenanteile) in Abteilung 6 im Regelbedarf und unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 26. Juni 2016 (B 3 KR 21/15 R)* kein weitergehender Handlungsbedarf im System der staatlichen Fürsorgeleistungen gesehen.“. Fraglich ist, in welcher Höhe hier Sehhilfen enthalten sind. Das Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 4/17 R, erklärt bei Brillenreparaturen „Kosten für die Reparatur einer Brille sind nicht vom Regelbedarf umfasst, sondern begründen einen Sonderbedarf in der Variante der Reparatur von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen.“, weil Sonderbedarfe im Regelsatz nicht berücksichtigt sein können, da sie über ein Statistikmodell gar nicht abgebildet sein können. (Stefan Sell, Kein Durchblick vom Amt. Die Kosten einer Brille bei Hartz IV und Sozialhilfe sowie „verfassungskonforme“ 2,70 Euro pro Monat, die im Sparschwein landen sollen, 2020, https://aktuelle-sozialpolitik.de/2020/06/14/kein-durchblick-vom-amt/)

2018, also 4 Jahre nach Entscheidung des BVerfG, wurde ein Gutachten durch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags erstellt, die zu der gleichen Auffassung wie das BverfG gelangten (Kostenübernahme für Sehhilfen im Rahmen des SGB II/SGB XII, Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, 2018 /WD 6 – 3000 – 023/18, https://www.bundestag.de/resource/blob/559788/5c2259d18af3b5b9ddaa125b180dcdd9/wd-6-023-18-pdf-data.pdf)

Seitdem wird im Gesundheitsausschuss verhandelt, wie mit der Kostenübernahme von Sehhilfen zu verfahren sei, die seit 2014 in der Existenzsicherung fehlen. Verschiedene Verbände reichten Stellungnahmen ein. In ihrer Stellungnahme von 04.11.20 erklärt die Caritas auf S. 3: „Brillengestelle sollten aus unserer Sicht grundsätzlich nicht von der Kostenübernahme durch die Krankenkasse erfasst sein, da hier auch sehr kostengünstige Gestelle auf dem Markt zur Verfügung stehen .”(https://www.bundestag.de/resource/blob/801750/1ab950c8867733416417a3d2c71655d9/19_14_0237-1-_Deutscher-Caritasverband-e-V-Sehhilfen-data.pdf). Die „Expertise“ der Caritas verkennt, dass bei komplexen Erkrankungen mit verschiedenen Augenleiden als Komorbidität Brillengestelle keineswegs kostengünstig zu haben sind. Personen mit komplexen systemischen Erkrankungen, die ohnehin schon mit hohen Kosten belastet sind, die das Existenzminimum nicht abdeckt, werden hier erneut diskriminiert. Wie üblich wurde auf Hinweis nicht reagiert. Die Caritas spielt dem Gesetzgeber in die Hände, der nun eine Grundlage hat, Brillengestelle weiterhin zu exkludieren.

Nachdem Betroffene weitere 7 Jahre Grundrechtsverletzung hinnehmen mussten, hat der Gesetzgeber im SGB II die ab Januar 2021 geltende Rechtslage eingefügt: „Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer […] Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen […] nicht zumutbar […] ist“ (§21 Abs. 6 SGB II-neu).“

Der bekannte Sozialaktivist Harald Thomé erklärt, hier wird schon der Widerspruch mit der BVerfG Maßgabe offensichtlich: „auf ein Anschaffungsdarlehen […] kann nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen ist, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen“ (BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL10/12, Rn 116).  Für die Praxis bedeutet dies: Es muss immer geprüft werden, ob und wenn, in welcher Höhe Beträge im Regelbedarf vorhanden sind. Wenn sie enthalten sind, aber zu gering berücksichtigt sind, dann ist der Verweis auf ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II nicht zulässig, mit der Folge das das Jobcenter dies auf Zuschussbasis erbringen muss.“ (Harald Thomé, SGB II Folien, 21, S. 33, https://harald-thome.de/files/pdf/Harald_2021/SGB%20II%20-%20Folien%2025.03.2021.pdf)

Es kann davon ausgegangen werden, das hier wieder Gerichtsverfahren nötig werden, um zu ergründen, inwieweit die 2,70 € mtl. für therapeutische Geräte für Sehhilfen anzusparen wären, ob dies auch von Personen geleistet werden kann, die bereits anderweitig mit hohen Kosten belastet sind und ob die zu finanzierenden Sehhilfen auch preislich angemessen sind. Anscheinend sind die Kosten für Klagen aber kein Problem.

Da das Urteil des BVerfG die Gerichte auffordert, diese Leistung verfassungskonform auszulegen, also zu bewilligen, haben Untergerichte die Frage, ob Jobcenter Sehhilfen zu übernehmen hat, z. B. mit SG Frankfurt Urteil vom 19.03.2016, Az. S 19 AS 1417/13; SG Berlin Urteil vom 28.08.2019, Az. S 114 AS 1147/17 bereits positiv entschieden. Einige Jobcenter sollen auch Brillen übernommen haben- offensichtlich wird willkürhaft vorgegangen. In Az. S 19 AS 1417/13 heißt es: „eine ausreichende Sehfähigkeit (auch für die Ferne) ist  erforderlich, um unnötige Gefährdung für sich und andere nach Möglichkeit auszuschließen“. Bei hoher Fehlsichtigkeit, wo trotz des Festzuschusses der Krankenkassen, der seit 2017 ab über 6 Dioptrien gewährt wird, ist die verbleibende selbst zu tragende Summe trotzdem deutlich höher und wird weiterhin verfassungswidrig, obwohl im SGB II, XII Bezug nun für gering Sehschwache diese übernommen werden, nicht übernommen.

So erklärten die Richter Kärcher, Lemke, Diefenbach des LSG Berlin-Brandenburg in ihrem  ablehnenden Beschuss im Verfahren gegen das Jobcenter Berlin Pankow Az. L 27 AS 241/21 B ER: „im Rahmen der Grundsicherung wird ein Bedarf an medizinischer Behandlung wie auch an medizinischen Hilfsmitteln durch die Übernahme durch die Krankenkassen gedeckt. Übersteigt ausnahmsweise wegen der Besonderheiten des Einzelfalls das medizinische Notwendige den für eine solche Leistung nach dem SGB V vorgeschriebenen Festbetrag so ist, der Mehrbedarf gegenüber der Krankenkasse geltend zu machen, der Leistungsträger nach dem SGB II ist insoweit kein Ausfallbürge (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.11.2019, L 7 AS 1649/19 B juris Rn 14).“

Da die Krankenkassen nicht weiter als den Festzuschuss und auch keine Brillengestelle zahlen, gibt es keine Sehhilfen für stark Sehschwache im SGB II, XII Bezug- sie müssen sich und andere gefährden, weil sie ja kaum etwas sehen. Auch steht ihnen wegen Behinderung (obwohl Behinderte ja nicht diskriminiert werden dürfen) das verfassungsgerichtlich entschiedene Grundrecht auf Sehhilfen nicht zu. Im übrigen ist auch falsch, dass Krankenkassen das medizinisch Notwendige übernehmen, wer eine seltene Erkrankung hat, wird sich um die Übernahme von Therapien streiten dürfen, wenn es nur internationale Behandlungsleitlinien gibt.
obgleich:

Tatsächlich dürfte mangels Berücksichtigung irgendwelcher auch nur annähernd als Luxus zu betrachtender Ausgabenpositionen keinerlei Spielraum für einen internen Ausgleich mehr bestehen. Deshalb ruft das BVerfG auch sehr deutlich die Fachgerichte dazu auf, Einzelleistungen durch verfassungskonforme Auslegung zu ermöglichen“ (Nomos, Existenzsicherungsrecht, 2019, Kap 25, Rn 139).

Und:

Erst in der Zusammenschau der insgesamt tatsächlich zur Verfügung stehenden Leistungen kann entschieden werden, ob das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzt ist. Den Existenzsicherungssystemen kommt dabei allerdings eine besondere Rolle zu: Als letztes Netz des Systems der Sozialen Sicherheit müssen sie aus verfassungsrechtlicher Sicht zwingend die Lücken füllen, die von den vorrangigen Systemen gelassen werden.“ (Nomos, Existenzsicherungsrecht, 2019, Kap 24, Rn 6).

Wenn Sehhilfen nicht hinreichend in den Existenzsicherungsleistungen eingestellt sind, dann sind sie auch nicht in Mindestlohn und anderen niedrigen Einkommen aus Arbeit vorhanden, da diese sich auf Hartz IV beziehen.

4. Kampfzone einmalige Bedarfe und fortlaufender Bedarf
Beispielsweise bei Sehhilfen mussten sich Betroffene an Untergerichten mit der Problematik herumschlagen, dass nur wenige in § 24 SGB II nur wenige Bedarfe genannt wurden und § 21 sich nur auf einige fortlaufende Bedarfe bezieht. Sehhilfen, behauptete das Jobcenter Pankow, wären vom § 24 nicht umfasst und würden nur einmalig anfallen. Keine Sehhilfe hält ein Leben lang. Sie wird in unregelmässigen Abständen anfallen. Das BSG hat 2019 mit den Urteilen vom 08.05.2019, Az. B 14 AS 6/18 R, B 14 AS 13/18 R, eine Öffnungsklausel geschaffen und bestimmt, dass zusätzliche Bedarfe, die in den Anschaffungskosten einmalig anfallen, aber als Bedarf fortlaufend bestehen, auch vom Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II umfasst sind und somit ein Zuschuss ohne Rückzahlpflicht zu gewähren ist.

5. Konsequenz der mangelhaften Gesetzgebung: jahrzehntelange Klagen
Letztendlich dürfen sich die Betroffenen jahrzehntelang durch die Instanzen klagen. Wer sich mit der Fachliteratur seiner Erkrankung nicht auskennt wird gegen Gutachter, die mit dem Ziel einer negativen Bewertung bestellt werden, keine Chance haben. Es werden hierfür Gutachter bestellt, die die Erkrankung gar nicht kennen (Versichert und Verloren, ein Film von Stefan Maier, SWR, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=pK2_6QvjU7A). Es wird versucht, die Betroffenen zu psychiatrisieren (Wenn der Rechtsstaat zur Farce wird, Ortwin Rosner, 2018, https://www.derstandard.at/story/2000091231352/wenn-der-rechtsstaat-zur-farce-wird; Dr. Hans-Ulrich Hill: Die Psychiatrisierung von Patienten mit chronischen Multisystemkrankheiten am Beispiel ME/CFS – Folgen und Hintergründe (aus „ME – Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom. Fakten, Hintergründe, Forschung“ von Katharina Voss, 2015). Dann wird man noch nachweisen müssen, wieso diese Kosten nicht enthalten sind und warum sie diese Höhe haben.

Behörden verweigern Betroffenen die Leistung. Bei seltenen Krankheiten ist dies besonders einfach, weil es keine Versorgungsleitlinien gibt. Dieses ausgrenzende Verhalten haben nach der aktuellen Studie der Aktion Mensch, 34 Prozent bei Ämtern und Behörden bereits erlebt (Aktion Mensch-Umfrage zum 5. Mai zeigt: Gravierende Missstände bei Barrierefreiheit verhindern Inklusion, 2021, Aktion Mensch, https://www.aktion-mensch.de/presse#/pressreleases/aktion-mensch-umfrage-zum-5-mai-zeigt-gravierende-missstaende-bei-barrierefreiheit-verhindern-inklusion-3095243). Auch in einer älteren Umfrage einer Abgeordneten der Bundesgrünen, werden die Erfahrungen mit Behörden als sehr negativ bewertet. (Was erleben behinderte Menschen bei der Beantragung von Leistungen?, Umfrage der Grünen, 2019, https://www.corinna-rueffer.de/wp-content/uploads/2019/05/Ergebnis_Umfrage_Behoerden.pdf).

Fazit
Je ärmer und je weniger arbeitsfähig Menschen sind, desto uninteressierter ist die bürgerliche Politik. Es geht um Einsparung durch Leistungsverweigerung (Fehlerhafte Hartz-IV-Bescheide: Wer ist schuld?, Harald Thomé, WDR, 2017): Ein menschenwürdiges Existenzminimum wird verweigert. Dabei wird das Diskriminierungsverbot verletzt, das übrigens auch noch mal durch das Inkrafttreten, der UN-Behindertenkonvention bestätigt wurde. Man darf feststellen, dass Politik und Behörden auf dem Rücken von schwer erkrankten Personen sich absolut menschenrechtsfeindlich verhalten. Verbleibt festzustellen, dass es in der BRD keine Instanz gibt, die derartige Diskriminierungen sofort unterbindet, vielmehr ist der individuelle Klageweg durch die Instanzen anzutreten, was bis zum BVerfG wieder Jahre dauert, sofern der Gegner nicht irgendwann zur Verhinderung eines allgemeingültigen Urteil einlenkt. Damit stehen die verfassungsrechtlichen Garantien auf sehr wackligen Füssen, was dem Wesen des Rechtsstaats zuwider ist. Auch das Sozialstaatsprinzip läuft leer. Leider können Politer*innen wegen Missachtung von Grundrechten nicht strafrechtlich belangt werden. Der Bruch des geleisteten Amtseids („Gerechtigkeit gegen jedermann“) ist nicht strafbar (Maunz/Dürig: Kommentar zum Grundgesetz, 94. Auflage 2021, GG-Artikel 56). Insofern ist die Politik nicht an die Verfassung gebunden. Zuletzt wurde anlässlich der Corona-Krise seitens der Politik erklärt, der Staat habe die Pflicht die Gesundheit seiner Bürger zu schützen-  eine Aussage die durch das bisherige Verhalten völlig konterkariert wird (Helge Braun, CDU in: https://www.deutschlandfunk.de/corona-kanzleramtsminister-braun-einschraenkungen-fuer.1939.de.html?drn:news_id=1284020).

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